Prequel zu IOSUA – Ein Leben im Schatten

Ich habe eine Kurzgeschichte für dich, um Iosua kennenzulernen. Begleite ihn auf einem Streifzug am zweiten Weihnachtstag. Halte Inne und besinne dich darauf, was wirklich wichtig ist und werde dich deinem Glück bewusst.

Iosuas Weihnachten ist anders und auch wieder nicht. Tief verborgen in ihm sind ganz ähnliche Wünsche und Hoffnungen, wie bei dir und mir. Nur irgendwie doch anders. Sein Weg ist steiniger, aber er stellt sich mutig seinen Herausforderungen.


IOSUA Adventsgeschichte Cover

IOSUA – Stiller Protest

Kurzgeschichte

Gespielt leichtfüßig steige ich aus dem tiefergelegten, alten Sportwagen aus und schlage die Wagentür zu. Ohne mich noch mal umzublicken, hebe ich die Hand zum Abschiedsgruß und gehe in gemäßigtem Tempo die Straßen entlang, die sich durchs Wohngebiet schlängelt. An der Szene ist nichts Verdächtiges. Niemand wird sich an mich erinnern, sondern sofort vergessen, dass ich da war. Ein Besucher oder Bewohner von einem der zahlreichen weich getünchten Einfamilienhäuser, die wie Bauklötze links und rechts verteilt liegen. Manche zurückversetzt mit üppigen Vorgärten, manche dicht an der Straße, versteckt hinter hohen Zäunen. Unauffällig scanne ich die Hausnummern, erfasse die Logik der absteigenden geraden und ungeraden Zahlen dieser Siedlung und brauche keinen zweiten Blick, um mein Ziel zu erreichen. Mein erstes Ziel, wenn es nach dem Mistkerl im klapprigen Honda ging.

Ich widerstehe dem Impuls, mir das brennende Schlüsselbein zu reiben. Mein Chauffeur hat wieder Gebrauch von dem Zigarettenanzünder gemacht, den er so gerne für eine kleine Machtdemonstration nutzt. Wenigstens hat er gut genug gezielt, so dass ich keine Stoffreste aus der Wunde pulen muss. Mittlerweile habe ich eine hohe Erfolgsquote. Ich kann im Voraus erraten, mit welcher Methode Yasin mich für zu geringe Abgaben bestraft. Nicht, dass es hilft, die Schmerzen besser zu ertragen.

Ohne zu zögern, öffne ich die Pforte im Gartenzaun und folge dem gepflasterten Weg zur Rückseite des Hauses. Bewegungsmelder springen an. Praktisch, das gedämpfte Licht weist mir den Weg. Kein Grund zur Beunruhigung, wie sich einige Hausbesitzer wahrscheinlich erhoffen.

Ich ziehe ein kleines Schlüsselbund mit meinem Werkzeug aus der Innentasche und entriegle das Schloss der Terrassentür. Geräuschlos trete ich ein, ziehe die Tür zu und verharre einen Moment. Ein leises Surren geht von den Heizkörperventilen aus, die Heizungsanlage selbst rauscht leise. Geräusche eines verlassenen Hauses, die mir nur allzu vertraut sind und in mir ebenfalls eine Art Ruhe erzeugen. Ich trete einen Schritt vor in die Mitte des geräumigen Wohn-Ess-Zimmers und fokussiere den prächtigen Tannenbaum. Die Lichterkette spendet einen goldenen Schein und zeichnet weiche Konturen an die Wände. Reglos sauge ich alle Eindrücke auf. Die Geschenke liegen feinsäuberlich aufgereiht und um den Stamm schlängelt sich ein Gleisbett einer Modelleisenbahn. Ich kann keinen Zug entdecken, vielleicht hat er sich nach seiner letzten Fahrt hinter den tiefhängenden Zweigen versteckt. Das Haus beherbergt eine vierköpfige Familie. Zahlreiche, in dunkles Holz gefasste, Bilderrahmen zeigen zwei Söhne, wahlweise mit oder ohne die stolzen Eltern. Zwillinge mit honigblondem Haar und lebhaft strahlenden Kinderaugen. Ihr Lachen hallt in meinem Kopf wider, aber es klingt unecht. Wahrscheinlich, weil ich kein echtes, freies Lachen in meinem Gedächtnis zum Vergleich abgespeichert habe. Mit den Augen scanne ich weiter den Raum und stelle mir vor, wie die Familie diese Wände mit Leben füllt. Laut und stürmisch oder auch aufbrausend, aber trotzdem liebevoll. Meine Fantasie ergänzt den herben Tannengeruch mit dem wohlriechenden Duft frischer Plätzchen und einem Entenbraten. Bevor ich meine Vorstellungskraft zügeln kann, knurrt mein Magen und ich schließe kurz die Augen, um mich von der inneren Leere abzulenken.

Meine Hände ruhen reglos an meiner Seite. Ich habe nicht vor, nach etwas zu greifen und dieses idyllische Stillleben zu zerstören. Bereits auf meinem Weg hierher habe ich diese Entscheidung getroffen. Ich stehe hier, um für die Nacht Ruhe zu finden.

Mein Handy verrät ihnen meine Position und lässt sie in dem Glauben, ich werde den stumm erteilten Auftrag ausführen, um meine Schulden zu begleichen. Vielleicht würde Schmuck und Bargeld ausreichen, wenn ich mich hier und in der Nachbarschaft auf die Suche machen würde, aber was würde ich den Familien antun? Weihnachten ist für mich bloß eine Ansammlung von Tagen, an denen ich absurd hohe Quoten erfüllen muss. Dieses Jahr ist mir eine Lungenentzündung dazwischengekommen. Als hätte ich mir eine freiwillige Auszeit im Krankenhaus gegönnt, darf ich heute, am zweiten Weihnachtstag, die aufgelaufenen Ausfälle kompensieren. Auf der Straße unmöglich, sitzen doch jetzt alle vor ihrem Kamin und genießen ein besinnliches Fest im Kreise ihrer Lieben. Ich sollte dankbar sein, über die Chance, diese Häuser ausrauben zu dürfen. Welch eine Farce.

Der Druck auf meiner Brust nimmt zu. Ich ziehe einen Inhalator aus der Jackentasche. Gleichmäßig inhaliere ich tief den Sprühstoß. Kämpfe still gegen das aufsteigende Gefühl der Machtlosigkeit.

Mit leisem Klick erstirbt der Schein der Lichterkette und dunkle Schatten breiten sich aus. In der Dunkelheit kann ich wieder befreiter atmen. Ausgelaugt und körperlich erschöpft sinke ich zu Boden. Der Rucksack rutscht von meinen Schultern und ich ziehe ihn eng neben mich. Vielleicht würden die Besitzer spontan nach Hause kommen, weil es Ärger mit den lieben Verwandten gab? Ich sorge mich nicht. Ich wäre in der Lage, unbemerkt zu fliehen, und wenn nicht, würde ich ein paar Nächte auf einer unbequemen Pritsche auch in Kauf nehmen. Gemessen an meinen Maßstäben nicht die schlimmsten Bedingungen für eine Nacht. Seit fast zwei Jahren bin ich strafmündig und habe doch nur wenige Nächte in einer Zelle geschlafen. Der Polizei würde ich mich lieber ausliefern als meinem Chauffeur. Wenn ich morgen mit leeren Taschen zu ihm ins Auto stieg, würde der Zigarettenanzünder mein kleinstes Problem sein. Aber warum sollen andere für mich leiden müssen? Ich sehe keinen Sinn darin, anderen die Erinnerungen an ein friedliches Weihnachtsfest zu rauben, nur um einen Tag Ruhe zu haben. Da erkaufe ich mir lieber diese eine Nacht in beschaulicher, warmer Einsamkeit.

Müde rutsche ich noch eine Ebene tiefer und lege meinen Kopf auf den Rucksack ab, lasse aber die Augen offen. Aus dem Blickwinkel entdecke ich die Lok mit mehreren Wagons auf den hinteren Gleisen und lasse sie in meinen Gedanken eine Runde fahren. Ich erlaube es mir nochmal, in die Illusion abzutauchen und sehe den Zwillingen beim wilden Fangen-Spiel zu. Sie bewerfen sich mit Kissen und glucksen vor Freude. Ich kann ihre Fröhlichkeit sehen und hören, sogar riechen und schmecken. Nur nicht fühlen. Fühlen ist sinnlos. Der Tastsinn ist für mich wie ein Fremdorgan. Ich wünsche ihn mir so weit weg wie möglich, weil ich dank dieser Fähigkeiten zu all diesen Sachen gezwungen werde. Meine Berührung zerstören nur und würden den Zauber brechen. Als stiller Beobachter liege ich am Rande meiner Traumwelt und drifte irgendwann in einen Halbschlaf.

Ohne an das Erwachen zu denken.

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